Leistung zum Nulltarif? Vom Wert der Sorge für andere

am Donnerstag, 2.12.21 um 22:55 in 3sat!

Was gilt in unserer Gesellschaft als Leistung, und wer sind die Leistungsträger? Wer verdient gutes Geld, wer arbeitet für kleinen Lohn – oder nur aus Liebe? Wer hat später ausgesorgt – und wer wird arm?

In der Corona-Krise wurde deutlich, dass viele lebensnotwendige Leistungen unterbezahlt sind – oder privat erbracht werden (müssen): Pflege, Erziehung, Bildung, Haushalt… Die Dokumentation stellt neue Ideen und Modelle vor, wie die Sorge für andere künftig besser verteilt und honoriert werden kann. 

  • Saskia Sporys und Daniel Zirnig leiten als Tandem ein globales Team bei BASF. So haben beide mehr Zeit für ihre Familien.
  • Sascha Verlan und Almut Schnerring haben den Equal Care Day ins Leben gerufen.
  • Katja Schülke und Gertrud Hennen haben eine interne Care-Anlaufstelle für die Stadt Bonn gegründet
  • Ina Praetorius bei einer Stadtführung "Wirtschaft ist Care" in Sursee
  • Lina Schwarz und Sophie Obinger haben die App "WhoCares" entwickelt, mit der man Sorgearbeit im Alltag messen kann

“Frauen sind stärker von Altersarmut betroffen, weil ihre Lebensleistung nicht anerkannt wird.”

Aysel Yollu-Tok, Ökonomin an der HWR Berlin

Von der gesamten Arbeit, die in Deutschland anfällt, werden nur 66 Mrd. Stunden bezahlt. Der Rest wird gratis geleistet – 89 Mrd. Stunden jährlich. Eine unvorstellbare Wertschöpfung, die im Privaten stattfindet – und überwiegend von Frauen geleistet wird.

Die unbezahlte Arbeit stellt schon gewissermaßen einen blinden Fleck dar. Aus Sicht der Besteuerung, aber auch aus Sicht der Sozialsysteme insgesamt. Diese Leistung, die hier erbracht wird, die wird so nicht gesehen.

Margit Schratzenstaller, Ökonomin am WIFO, Wien

Was ist Sorgearbeit, und wie misst man sie? Dazu haben Lina Schwarz und Sophie Obinger die App “WhoCares” entworfen, die man sich aufs Smartphone herunterladen kann.
Almut Schnerring und Sascha Verlan haben den Equal Care Day ins Leben gerufen, der für die Anerkennung der Sorgearbeit als Leistung wirbt: bundesweit und international am 29. Februar.
Der Verein “Wirtschaft ist Care” aus der Schweiz will die Wirtschaft neu denken – von den Bedürfnissen der Menschen her.

Arbeit am Menschen, sei es nun beruflich oder im Privaten, gilt nicht als Leistung, weil es nicht relevante Erträge bringt fürs Einkommen, für die Rente, für Karrierechancen.

Karin Jurczyk, Soziologin

Wie können Erwerbsarbeit und Sorgearbeit besser verteilt werden? Einige Beispiele:
Bei der Stadt Bonn haben Katja Schülke und Gertrud Hennen eine Umfrage unter den Mitarbeitenden gemacht und schließlich eine interne Care-Anlaufstelle gegründet. 
Bei BASF in Ludwigshafen führen Saskia Sporys und Daniel Zirnig als Tandem ein globales Team: Sie arbeiten jeweils 60 Prozent, um genug Zeit für ihre Familie zu haben.
Im Lebenslauf flexibel zwischen Erwerbs- und Sorgephasen wechseln? Das könnten Staat und Unternehmen allen Menschen ermöglichen: Die Soziologin Karin Jurczyk hat dazu das Modell der “atmenden Lebensläufe” entworfen. Sie engagiert sich in der Initiative Care.Macht.Mehr.
 

  • Gernot und Sabine Jochum-Müller von Zeitpolster (Österreich)
  • Heidi Ludescher kümmert sich um Dennis und Mikael, wenn ihre Mutter arbeitet, und bekommt die Stunden über Zeitpolster gutgeschrieben.
  • Karina Pölzl und Roland Mallaun helfen im Garten von Else Schertler in Hardt, vermittelt über Zeitpolster
  • Noelia Menchon und Jürg Weibel von der Stiftung Zeitvorsorge, St. Gallen
  • Rosa Haldner geht mit Egon Strässle spazieren, vermittelt über die Stiftung Zeitvorsorge St. Gallen

Zeitpolster und Zeitvorsorge

Für die Anerkennung von Sorgearbeit gibt es auch Modelle, die wie Zeitbanken funktionieren: zum Beispiel das Sozialunternehmen “Zeitpolster” aus Vorarlberg in Österreich. Die Rentnerin Heidi Ludescher kümmert sich in ihrer Freizeit um Dennis und Mikael, wenn deren alleinerziehende Mutter arbeiten muss. Die Stunden, die sie mit den beiden verbringt, bekommt sie gutgeschrieben – für später, wenn sie selbst auf Hilfe angewiesen ist.
Ein Generationenvertrag, der Schule macht: Das Konzept ist bereits in mehreren Bundesländern Österreichs vertreten und wird jetzt auch nach Deutschland expandieren. In der Schweiz hat die Stadt St. Gallen die “Stiftung Zeitvorsorge” gegründet. Hier können Freiwillige ältere Menschen betreuen und dafür bis zu 750 Stunden ansparen – dieses Zeitvermögen garantiert die Stadt.
Es sind Modelle zwischen Ehrenamt und bezahlter Tätigkeit: Die Freiwilligen werden honoriert, aber nicht mit Geld bezahlt. Trotzdem können sie eine Ergänzung zur eigenen Altersvorsorge aufbauen – und sie schaffen gemeinsam ein Netzwerk, das sie auch im Alter tragen wird.